Innere Konflikte

Innerer Konflikt

Unter inneren Konflikten (oder auch innerpsychischen Konflikten) versteht man Spannungen, die innerhalb einer Person auftreten, wenn verschiedene eigene Bedürfnisse, Wünsche, Motivationen oder Überzeugungen miteinander in Konflikt geraten bzw. im Widerspruch zueinander stehen. Der Konflikt oder seine einzelnen Elemente können dabei bewusst oder vorbewusst (umgangssprachlich als „unterbewusst“ bezeichnet) sein.

Innere Konflikte sind keine Seltenheit. Eigentlich gibt es vermutlich keinen Menschen der komplett frei von ihnen ist. Zum Problem werden sie allerdings nur, wenn sie ein gewisses Ausmaß überschreiten, durch bestimmte Situationen getriggert werden oder die persönliche Freiheit leidvoll einschränken.

Arten von innerpsychischen Konflikten

Innere Konflikte können auf unterschiedliche Arten entstehen und die verschiedenen psychologischen Schulen haben unterschiedliche Konzepte dazu entwickelt. Jede Form der Einteilung wirkt aufgrund der Ganzheitlichkeit des Themas willkürlich, trotzdem möchte ich zum besseren Verständnis eine Kategorisierung wagen:

Konflikte mit sozialen Normen
Auf der einen Seite stehen unsere persönlichen Triebe und (vielleicht egoistischen?) Wünsche die uns antreiben und motivieren – auf der anderen Seite gewisse Normen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sigmund Freud sprach in diesem Zusammenhang vom „Über-Ich“, welches unsere persönlichen Triebe und Wünsche in Schranken verweist. Häufig sind die gesellschaftlichen Normen internalisiert, d.h. wir haben sie uns zu eigen gemacht. Vielleicht sind sie sogar mit unseren eigenen Werten verschmolzen, womit wir dann direkt bei der zweiten Art von innerpsychischen Konflikten wären.

Konflikte zwischen eigenen Wünschen, Zielen und Werten
Jeder Mensch hat eigene Bedürfnisse, Wünsche und Ziele vor dem Hintergrund eigener Werte und Vorstellungen, wie er gerne sein und handeln möchte. In den seltensten Fällen lassen sich alle Wünsche gleichzeitig verwirklichen und noch seltener stehen sämtliche eigenen Bedürfnisse auch im Einklang mit den eigenen Werten und Normen. Diese inneren Elemente können sogar im direkten Widerspruch zueinander stehen, was nicht selten dazu führt, dass wir einen Teil von uns verdrängen.
Hier kommt es häufig vor, dass uns bestimmte Aspekte gar nicht bewusst sind und wir uns nicht ganz klar werden, warum wir uns in bestimmten Situationen schlecht fühlen. Gerade unsere Werte stehen auch im engen Zusammenhang zu unserem Selbstbild und unserer Persönlichkeit, woraus sich eine dritte Art von Konflikten ergeben kann.

Konflikte im eigenen Selbstbild
Das erlebte Selbst umfasst die bewusste Wahrnehmung und das Verständnis der eigenen Gedanken, Gefühle und Erfahrungen, während das tatsächliche Selbst die tatsächlichen Erfahrungen, Werte und Bedürfnisse einer Person darstellt, welche uns häufig nicht bewusst sind.
In diesem Zusammenhang prägte der humanistische Psychologe Carl Rogers den Begriff der Kongruenz. Wenn eine Person kongruent ist, besteht eine hohe Übereinstimmung zwischen ihrem erlebten Selbstbild und ihrem tatsächlichen Selbst. Es besteht Einklang zwischen dem, was die Person über sich selbst wahrnimmt und was sie tatsächlich ist. In diesem Zustand fühlt sich die Person authentisch, integriert und im Einklang mit sich selbst.
Das Gegenteil ist der Fall, wenn eine hohe Inkongruenz vorliegt, d.h. das tatsächliche Selbst und unser Selbstbild stark voneinander abweichen. Wir spüren eine oft unbestimmte Unzufriedenheit, die sich auf verschiedenste Weise im Verhalten oder sogar im Körper zeigen kann.

Beispiel 1:  Anna die Künstlerin
Anna ist eine talentierte und leidenschaftliche Künstlerin. Sie liebt es zu malen und hat das Gefühl, dass sie sich in diesem kreativen Ausdruck am authentischsten fühlt. Ihr tatsächliches Selbst umfasst also ihre künstlerische Begabung und ihre tiefe Leidenschaft für die Kunst.
Allerdings hat Anna auch eine starke Angst vor Ablehnung und Kritik. Sie hat in der Vergangenheit negative Erfahrungen gemacht, in denen sie als Mensch von anderen abgelehnt oder herabgewürdigt wurden. Dies hat zu einem innerpsychischen Konflikt geführt, da ihr Bedürfnis nach kreativem Ausdruck und Anerkennung mit ihrer Angst vor Ablehnung in Konflikt gerät.
Anna fühlt sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre Kunst frei und authentisch auszudrücken, und der Angst davor, negative Bewertungen oder Ablehnung zu erfahren. Sie möchte sich nicht von ihrer Angst kontrollieren lassen, aber sie spürt auch den Druck, den Erwartungen anderer gerecht zu werden und ihnen zu gefallen.
Dieser innerpsychische Konflikt im Selbstbild kann dazu führen, dass Anna sich in ihrer kreativen Entfaltung eingeschränkt oder unsicher fühlt. Sie kann sich selbst zensieren, ihre Ideen zurückhalten oder sich davor fürchten, ihre Kunstwerke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ohne die sehr persönliche Offenbarung, die sie in ihren Kunstwerken vorbewusst aus Angst zurückhält, verlieren diese an Ausdruckskraft. Anna wird unzufrieden mit ihren eigenen Werken und beginnt an sich selbst zu zweifeln…

Beispiel 2:  Markus der Freiheitsliebende
Markus ist ein junger Mann, der in einer liebevollen Familie aufgewachsen ist. Seine Eltern haben hohe Erwartungen an ihn und möchten, dass er in ihre Fußstapfen tritt und das Familienunternehmen übernimmt. Markus fühlt jedoch eine innere Unzufriedenheit und hat das Bedürfnis, seinen eigenen Weg zu gehen und seine eigenen Interessen zu verfolgen.
Vorbewusst entsteht in Markus einen innerpsychischen Konflikt zwischen seinem Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung und seinem Bedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz durch seine Familie. Er möchte sich von den Erwartungen seiner Eltern lösen und seine eigenen Talente und Interessen erkunden, aber gleichzeitig fürchtet er die möglicherweise damit verbundenen Konflikte und die Ablehnung. Seine Eltern haben bereits so viel Gutes für ihn getan und er möchte sie nicht enttäuschen.
Markus befindet sich in einem Dilemma, in dem er sich zwischen dem Erfüllen der Erwartungen seiner Familie und dem Verfolgen seiner eigenen Träume und Ziele entscheiden muss. Er fühlt sich unsicher und zerrissen, zwischen dem Wunsch nach Freiheit und andererseits dem Bedürfnis nach Harmonie und Anerkennung innerhalb seiner Familie.
Schließlich trifft er eine rationale Entscheidung gegen seine „wilden Ideen“ und übernimmt das Familienunternehmen. Er gerät dadurch in den kommenden Jahren immer mehr in einen Zustand der Inkongruenz, weil das aufgebaute Selbstbild des erfolgreichen Unternehmers gar nicht zu seinem eigentlichen Selbst eines freiheitsliebenden Abenteurers passt.


Mögliche Konsequenzen von innerpsychischen Konflikten

Derartige Konflikte führen in erster Linie zum Verlust von persönlicher Freiheit und zu Unzufriedenheit. Gerade wenn die Konflikte (noch) nicht bewusst sind, kann sich die Unzufriedenheit sehr unbestimmt äußern. Wir wissen dann gar nicht genau, was eigentlich mit uns los ist.

Bestehen die Konflikte längerfristig – gerade auf vorbewusster Ebene – neigen sie dazu sich weiter zu intensivieren. Hieraus können letztendlich verschieden psychische und körperliche Störungen entstehen.
Auf der psychischen Ebene beispielsweise verschiedene Angststörungen, Depressionen oder Essstörungen. Auch Alkohol- oder Drogenkonsum wird häufig genutzt um das Gefühl der inneren Spannung bzw. Inkongruenz zu lindern. Gelingt dies zeitweise, verstärkt sich der Konsum nicht selten in eine Sucht hinein.

Aber auch auf körperlicher Ebene können sich innerpsychische Konflikte einen Weg bahnen. Symptome wie Schmerzen oder Lähmungen, für die es keine organische Ursache gibt, sind nicht selten Ausdruck eines verdrängten Bedürfnisses. Der Körper zwingt einen sozusagen in ein Verhalten, welches dem verdrängten Bedürfnis Beachtung schenkt. Der ständige Stress eines innerpsychischen Konfliktes kann auch zu typischen psychosomatischen Beschwerden z.B. im Bereich Magen-Darm, Herz-Kreislauf, der Haut etc. führen.


Überwindung von innerpsychischen Konflikten

Im Zustand der Inkongruenz ist unser menschliches Streben nach innerem Wachstum und Selbstentfaltung blockiert. Eine genauere Erläuterung findest du im Artikel zur humanistischen Persönlichkeitsentwicklung >>

Der erste Schritt um diese Blockade zu lösen ist eine Bewusstmachung des eigentlichen Konflikts. Dies erfordert Selbstreflexion, Ehrlichkeit und die Bereitschaft, sich mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Werten auseinanderzusetzen. Das Erkennen und Benennen des Konflikts ermöglicht es, ihn zu untersuchen und besser zu verstehen.
Oft ist uns gar nicht bewusst, dass der Konflikt in uns selbst tobt und wir versuchen die Schuld für unsere Unzufriedenheit im Außen zu suchen. Hier können uns gute Freunde, Partner oder ein psychologischer Berater bzw. Therapeut helfen uns selbst zu reflektieren.

Nach der Bewusstwerdung gilt es, nach Lösungen und Kompromissen zu suchen, um den inneren Konflikt zu überwinden. Dies kann bedeuten, dass man Prioritäten setzt, neue Perspektiven einnimmt oder alternative Handlungsweisen findet, die den eigenen Werten und Bedürfnissen gerecht werden. Manchmal ist es auch notwendig viel Mut aufzubringen und grundlegende Veränderungen vorzunehmen. Oft sind Anteile unserer Persönlichkeit verdrängt worden, die es gilt wieder zu integrieren.

Es ist wichtig, sich selbst anzunehmen und mitfühlend mit sich selbst umzugehen. Innerpsychische Konflikte gehen häufig mit Selbstkritik oder Beurteilung durch internalisierte Normen einher. Indem man Selbstannahme kultiviert und sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis begegnet, kann man einen heilsamen Weg der Konfliktbewältigung gehen.
Gerade hierbei kann es sinnvoll sein, sich Hilfe durch eine psychologische Beratung oder Psychotherapie zu suchen. Gerade humanistische Therapieformen legen großen Wert auf den Aspekt der Selbstannahme im Prozess der therapeutischen Beziehung.

Kommen wir auf unsere Beispiele zurück.
Im therapeutischen Prozess würde Anna daran arbeiten, diese inneren Konflikte zu erkennen, zu verstehen und zu lösen. Sie könnte lernen, ihre Ängste zu akzeptieren, sie herauszufordern und ihre Selbstannahme und Selbstvertrauen zu stärken indem sie konkrete Situationen erlebt, in denen sie wertgeschätzt wird. Durch diese Arbeit könnte Anna zu einer größeren Kongruenz zwischen ihrem erlebten Selbst als Künstlerin und ihrem tatsächlichen Selbst gelangen und sich ermutigt fühlen, ihre Kunst frei und selbstbewusst auszudrücken.
Markus könnte seine eigenen Werte und Ziele erforschen, seine eigenen Bedürfnisse besser verstehen und lernen, sich von den Erwartungen anderer zu distanzieren. Eine Flexibilisierung seiner verinnerlichten Normen und Werte könnte ihm helfen, sich bewusst und frei für seinen eigenen Weg zu entscheiden ohne dabei seine Familie vor den Kopf zu stoßen. So entstünde eine größere Kongruenz zwischen seinen individuellen Träumen und den Beziehungen zu seinen Familienmitgliedern.

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